Chauffeure haben es bekanntlich nicht leicht, schon gar nicht in unserer Firma (dafür ist ihnen aber diese kleine Geschichte gewidmet!). Der Job ist jedenfalls nichts für Langschläfer oder Menschen, die Pünktlichkeit für ein Fremdwort halten. Wenn die Passagiere um halb sechs – quasi noch im Halbschlaf – in den Car fallen, ist mancher Fahrer schon ein paar Stunden auf den Beinen. Routeninfos, Stadtpläne, Wetterdienst – es ist unerlässlich man bereitet sich vor.
Eine noch grössere Herausforderung als das Antreten zum Frühdienst ist dann die baldige Versorgung des Fahrers mit Schlaf. Ein ausgeschlafener Fahrer ist mehr wert als zehn Weiterbildungsseminare über Sicherheit im Strassenverkehr. In den Neunziger Jahren setzten wir daher auf längeren Fernbus-Strecken immer schon zwei sich abwechselnde Chauffeure ein. Auf diese Weise hatten wir immer einen ausgeruhten Fahrer am Steuer. Im Sommer 1992 war es dann wieder einmal so weit: Mit einer Gruppe ferienhungriger Gäste an Bord ging es nach Cattolica, einem Klassiker unter den Badeorten an der Adriaküste. Wie üblich fuhren wir über Martigny in Richtung Grosser St. Bernhard, das sommerliche Wetter hatte für trockene Strassen und einen wolkenlosen, blauen Himmel gesorgt, die Stimmung an Bord war daher ganz ausgezeichnet.
Keine schlechte Gelegenheit sich in die Schlafkabine an Bord zu verdrücken... Dieser Gedanke beschäftigte Leon, unseren Fahrer Nr. 2, schon so einige Zeit. Er hatte bis jetzt nur das Gepäck der Gäste verstaut und obwohl das nicht allzu anstrengend war, fühlte er sich angenehm müde und bereit bis Milano zu schlafen. Mag der eine oder andere unter Frühjahrsmüdigkeit leiden, die Sommermüdigkeit ist noch um einiges schlimmer. Sie duldet schon gar keinen Aufschub und Leon verdrückte sich bei passender Gelegenheit in die Koje. Mit Hilfe des bewährten Lämmerzähltricks, der im Wallis natürlich nur mit Schwarznasen funktioniert, schlief er ziemlich schnell ein. Es war ein tiefer, fester Schlaf und als Leon wieder erwachte, hatte der Bus gerade die Autobahn-Raststätte bei Aosta erreicht.
Das angeregte Geplauder der Gäste hatte ihn wahrscheinlich geweckt oder die vielen Schritte – durch den Mittelgang in der Kabine und über die drei Stufen des Ausstiegs hinaus. Unser Fahrer begann jedenfalls wieder zu zählen; viel fehlte nicht und der Schlaf hätte ihn ein zweites Mal übermannt, doch da war seine Blase, die ihm ein anderes, ebenso natürliches Bedürfnis signalisierte. Es hiess also Aufstehen und nachdem Leon mühsam in seine Kleider geklettert war, verliess er schlaftrunken den verlassenen Bus. – Ob es doch eine längere Sitzung wurde? Vielleicht. Unter Umständen hatte Leon, der die Augen kaum offen halten konnte, diesmal etwas länger gebraucht das stille Örtchen zu finden.
Nun staunte er nicht schlecht, als er zu seinem Car zurückkehren wollte, und auf Parkplatz Nr. 7 nur einen bunt bemalten VW-Kleinbus vorfand. Zwei langhaarige Typen starrten ihn unverwandt an. «Is’ was?» Naja, hier stand er doch, oder nicht? Leon rieb sich lange die Augen; er dachte, ja, hoffte inbrünstig, er hätte sich in der Nummer getäuscht und rannte zwischen den anderen Reisebussen nun wie ein aufgescheuchtes Huhn hin und her... Die einzig logische Erklärung begann bereits in seinem Schädel zu drücken – der Car war ohne ihn abgefahren, der Kollege am Steuer, der wohl dachte, Leon läge noch in der Koje, hatte ihn unabsichtlich vergessen... An dieser Stelle kommen wir nicht um den kleinen, aber entscheidenden Hinweis herum, dass es zu diesem Zeitpunkt auf der ganzen Welt – nicht nur in der Schweiz – noch keine Natels, iPhones oder ähnliche nützliche Gerätschaften gab, Leon hatte also nicht die Spur einer Chance seinen Bus anzuklingeln. Die technischen Voraussetzungen waren dazu noch nicht geschaffen.
In seiner Not hatte unser Fahrer dann mehr Glück als Verstand: Ein anderer Bus war ebenfalls auf dem Weg zur Adriaküste. Der Reiseleiter hatte angesichts des erbärmlich jammernden Leons wohl gar keine andere Wahl als dem Gestrandeten aus der Patsche zu helfen. Sicher hatte er sich auch eine kleine Aufbesserung des Bord-Entertainments versprochen, denn Leon musste seine Geschichte gleich mehrmals vor den Gästen erzählen, was die meisten ungemein amüsierte. «War wohl Ihre erste Fahrt, was?», rief jemand von den hinteren Rängen. «Na, so ein Pechvogel aber auch!», höhnte eine Dame mit zartlila getöntem Haar. Leon, ein Zerzuben Urgestein, konnte nur süsssäuerlich lächeln: Allein die Strecke nach Cattolica hatte er in den letzten zehn Jahren mindestens hundert Mal ohne Fehl und Tadel gemeistert. Doch das hätte ihm wohl hier an Bord keiner geglaubt.
Über einhundertvierzig Kilometer sass er dann wie auf glühenden Kohlen bis der Car – kurz vor Mailand – vor einer Zahlstelle hielt. Der Verkehr hatte sich auf gute hundert Meter gestaut und tatsächlich – da ganz vorne stand Leons Bus, ein Flügel des blauen Pfifoltras leuchtete ihm schon von Weitem entgegen. «Das war’s dann», japste er und liess sich selbst aus dem Bus. Seine Füsse standen kaum auf dem Asphalt, da sprintete er auch schon – von den johlenden Gästen angefeuert – mit einem Affenzahn los... Bewegung war inzwischen in die Schlange gekommen und Leons Bus rückte bedenklich auf die Mautstation vor. «Nein, nicht schon wieder!» Unserem Fahrer hing die Zunge längst aus dem Hals, das Hemd klebte ihm schweissnass am Rücken.
Als er die Wagentür endlich erreichte, begann er mit den Fäusten wie wild an die Scheibe hämmern. Verständlich, dass der Kollege am Steuer einen Riesen-Schrecken bekam! «Der Leon... Ich dachte, der schläft! – Owei, der wird uns doch nicht den ganzen Weg von Aosta nachgerannt sein?» Die Unmöglichkeit dieses Gedankens ging dem Mann am Steuer vor Freude nicht auf. Und Leon kroch zu diesem Zeitpunkt bereits schnaufend die Stufen hinauf. «Na klar», keuchte er, «frische Luft hat noch keinem geschadet. Und du kennst ja das Sprichwort: Dem Chauffeur ist nix zu schwör. Aber jetzt lass mich mal flugs hinters Steuer, ich glaube, ich bin jetzt ausgeschlafen genug!»