Die Entdeckung der Welt ist keine einseitige Angelegenheit. Andere Völker sind ebenso neugierig auf unser Land wie wir es einst auf Asien, Afrika oder Amerika waren. Sie landen heute mit dem Flugzeug in Genf oder Zürich und machen von dort aus Rundreisen durch die Schweiz, Frankreich oder Italien. Dass es dabei gelegentlich zu kleinen Missverständnissen, ja, sagen wir ruhig kleinen Kulturschocks, kommen kann, ist somit vorprogrammiert. «Andere Länder, andere Sitten», das alte Sprichwort besagt es wohl so wie es ist.
Ende der Neunziger Jahre hatten wir es oft mit indischen Gästen zu tun, nicht nur mit Grossstädtern, sondern auch Leuten aus dem Pandschab, Bangladesch oder aus der fernen Bergregion von Kaschmir. Die meisten waren zum ersten Mal in der Schweiz, was sie einen bei jeder Gelegenheit erneut wissen liessen. «Swiss, Swiss, first time!» Es war nicht leicht zu verstehen, was sie einem mit dieser Äusserung inhaltlich mitteilen wollten, doch der Satz schien sie selbst über alle Massen zu freuen. Der zweithäufigste Satz an Bord war dann die Frage, wann die nächste Raststätte käme, und bis heute glaube ich, kein Inder kann sich vorstelle, wie es ist, einmal der Kaumuskulatur für fünfzehn Minuten eine Aus-Zeit zu gönnen. Dem Kenner ist natürlich geläufig, dass kulinarische Genüsse in Indien kein notwendiges Übel des menschlichen Stoffwechsels sind, sondern wie Tee und scharfes Curry zur indischen Lebensart zählen, und dass die indischen Kulturmenschen ihr leibliches Wohlsein niemals vernachlässigen würden, ganz gleich wie widrig auch die Umstände sind.
Dabei sind manche durchaus bereit die an Bord eines Cars herrschenden Sicherheitsvorschriften grosszügig zu interpretieren. Eines Abends kam einer der Fahrer völlig aufgelöst in unser Büro. Er schien mit den Nerven restlos fertig zu sein... «Diese Inder», murmelte er vor sich hin, «hätten mir heute doch fast den Car abgefackelt...» Das war eine starke Behauptung und soweit ich in der Lage war, seinen Worten zu folgen, hatte die Degustationsfahrt nach Sierre erst recht friedlich begonnen. Die Gäste hätten über die endlos sich dahinziehenden Weinberge förmlich Bauklötzer gestaunt, doch ausser «Swiss, swiss, first time!» wenig gesagt. Während die Reiseleiterin Wissenswertes über Walliser Weine erzählte und fragte, ob Interesse bestünde in den nächsten Tagen den schönen Rebenweg nach Salgesch zu begehen, bemerkte unser Fahrer erstmals einen eigentümlichen Geruch. Auch seine Begleiterin rümpfte immer wieder die Nase... Was war das? Es schien nach Frittiertem zu riechen, vielleicht einem Fleisch-Fondue oder dem was sich «Feuertopf» nennt. Nur woher wehte plötzlich dieser intensive Küchengeruch? Als auch die bis zum Anschlag hochgeschaltete Klimaanlage nicht half, beschloss der Fahrer persönlich nach dem Rechten zu sehen.
Er steuerte also eine Pannenbucht an, hielt den Bus an und ging dann langsam durch den Mittelgang der Kabine. Tatsächlich wurde der Geruch mit jedem Schritt stärker... Fast alle Sitzreihen waren abgeschritten als unser Fahrer zwei Sikhs mit Riesenturbanen bemerkte, die mit Chilischoten, Limonen und frischen Kräutern hantierten. Den Gaskocher auf dem Jasstisch hatte er auch längst gesehen, doch sein Hirn weigerte sich schlichtweg zu glauben, was er jetzt sah: Vor den Männern, in einer kleinen Camping-Pfanne dampfte bereits ein herzhaftes Curry... «Und – haben sie dich zum Essen eingeladen?», warf ich ein.
Ich hatte dem hart geprüften Fahrer inzwischen einen Schnaps eingeschenkt, und da Feierabend war, lehnte er diesen natürlich nicht ab. «Sehr witzig», erwiderte er und wischte sich mit der Hand über den Mund. «Offenes Feuer an Bord ist verboten, das habe ich denen gesagt, aber die taten einfach so als würden sie mich nicht verstehen! Haben einfach nur freundlich genickt und weitergekocht. No cooking illegal, das hat noch einer gesagt. Also haben wir eine Pause gemacht und gewartet bis die ihr Curry gefuttert hatten.» «Würde es dich trösten, wenn ich dir sage, dass mir ein Reiseleiter vor Kurzem eine ähnliche Geschichte aufgetischt hat?» Ich fühlte mich fast verpflichtet ihm Trost spenden zu müssen. «Der Gute wurde mitten in der Nacht von einem Hoteldiener aus den Federn gerissen, weil ein Rauchalarm ausgelöst worden war. – Die Ursache? Ein paar Inder hatten auf ihrem Zimmer zwei elektrische Heizplatten ausgepackt und sich ein Chicken Tikka Masala bereitet. Ich meine, es war nach 23 Uhr, die Küche war seit einer Stunde geschlossen, und diese offenbar ausgehungerten Leute wussten sich wohl nicht anders zu helfen. Mal ehrlich, was hättest du an ihrer Stelle getan – mit zwei elektrischen Heizplatten und all den leckeren Sachen in deinem Koffer? Weisst du was, die Inder sind einfach besser vorbereitet als wir.»
Die Antwort, die ich erhielt, möchte ich hier stillschweigend übergehen, nur soviel, – sie zeugte nicht unbedingt von der heute modisch gewordenen Fremdtümelei, sondern eher von dem trockenen Wirklichkeitssinn, den ein guter Chauffeur braucht um seine Arbeit zu machen. Dazu gehört allerdings auch die Einsicht, dass man sich seine Reisegruppe nicht aussuchen kann. Doch vielleicht – und dieser Gedanke kommt mir erst heute – war diese Reisegruppe wirklich etwas ganz Besonderes, denn ein paar Wochen später – die radikalen Feinschmecker waren längst abgereist – hörte ich noch eine andere unglaubliche Geschichte: Einer unserer Hoteliers hatte zufällig in einem von indischen Gästen bewohnten Zimmer Wasserflecken auf zwei Lampenschirmen bemerkt.
Es handelte sich um neue, chice Nachttischlampen, so genannte Pagoden mit Pergament-Schirmen und langen Fransen; sie standen etwa zweieinhalb Meter voneinander entfernt und für die Tatsache, dass beide feuchte Flecken aufwiesen, hatte auch das Zimmermädchen keine Erklärung. – Wer hätte auch jemals von quasi synchronen Wasserschäden exakt über zwei Lampen gehört? Zudem schien die Decke des Zimmer völlig trocken zu sein. Die Flecken mussten also andere Ursachen haben. Ein paar Tage gingen ins Land und die Sache wäre wie so vieles in einem grossen Hotel bald vergessen gewesen, doch dann, bei einem routinemässigen Zimmercheck, bemerkte der Hotelier erneut die Lampen – und die frisch gewaschene Unterwäsche, die jemand auf den schrägen Schirmen ausgelegt hatte! Die Wärme, die die Birnen abstrahlten, ersetzte den Trockner.
Die Gäste – ein junges Ehepaar aus Kalkutta – kamen in diesem Moment von einem Einkaufsbummel zurück. Sie waren überrascht den Chef des Hotels auf ihrem Zimmer zu sehen. Der erkundigte sich sofort, ob alles seine Richtigkeit habe und – da ihm die Gelegenheit günstig erschien – auch nach den Wäschestücken auf seinen Pagoden. «Wo waschen Sie eigentlich?», fügte er noch mit spitzer Zunge hinzu. «Im Handwaschbecken im Bad?» «Oh no!» Mit einer geradezu vorwurfsvollen Mine schüttelte die indische Hausfrau den Kopf. «For cook wash I take the little machine...» Für Kochwäsche nimmt sie die kleine Maschine... Aha. Zu den vielen Talenten der indischen Nation zählt eben auch die Fähigkeit die Dinge sofort beim Namen zu nennen. – Die kleine Maschine also, nur was war damit gemeint? Der Hotelier stand einen Moment auf dem Schlauch, doch dann hatte er endlich begriffen: Der heute obligatorische Wasserkocher über der Minibar war gemeint.
Denken Sie daran, werter Leser, wenn Sie sich das nächste Mal auf einem Hotelzimmer einen Tee machen wollen. Oder werfen Sie zumindest mal einmal einen Blick in den Kocher, – wer weiss was sich da findet?